Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen. Sie sollen Ärzten Empfehlungen geben, wie eine Erkrankung festgestellt und behandelt werden sollte. Auch Kosmetikerinnen können eine Menge von ihnen für ihre Arbeit ableiten. In Teil 5 unserer neuen Leitlinien-Serie stellt Ihnen die angehende Ärztin, Kosmetikerin und Beauty Managerin Sarah White die wichtigsten Fakten aus der Leitlinie Dermatillomanie vor.
1. Definition (Beschreibung, Aussehen)
Der Begriff „Derma-tillo-manie“ ist griechischen Ursprungs und bedeutet so viel wie „leidenschaftliches Hautzupfen“. Die Erkrankung ist auch als Exkoriationsstörung oder umgangssprachlich „Skin Picking“ bekannt und lässt sich zeitgleich im Bereich der Dermatologie und Psychologie einordnen. Betroffene Menschen erleben einen unwiderstehlichen Drang, an ihrer Haut zu manipulieren, daher wird die Dermatillomanie den Zwangsstörungen beziehungsweise Impulskontrollstörungen zugeordnet. Das Manipulieren der Haut reicht von Knibbeln, Zupfen und Kratzen über Quetschen. Oft wird die Haut derart bearbeitet, dass Wunden entstehen und die Wundheilung beeinträchtigt wird. Betroffene schämen sich häufig für ihr Verhalten, das sie als wenig kontrollierbar erleben.
2. Epidemiologie (Prävalenz, Geschlecht, Alter)
Geschätzt wird, dass etwa zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung im Laufe des Lebens unter der Dermatillomanie leiden, wobei Frauen besonders häufig betroffen zu sein scheinen.
Der Erkrankungsbeginn liegt häufig im Bereich der Pubertät. Ein Großteil des Skin Pickings findet zudem auf der Gesichtshaut statt, wobei alle Körperbereiche vom Skin Picking betroffen sein können, darunter Kopfhaut, Beine, Arme, Dekolleté und Rücken. Seltener findet das Manipulieren der Haut im Schambereich, an Füßen oder Ohren statt.
3. Ätiologie (Disposition, Trigger)
Etwaige Auslöser für das Skin Picking sind vielfältig und sehr individuell. Wird das Verhalten oft durchgeführt, um Stress abzubauen oder ein Gefühl der Entspannung zu erreichen, können auch wahrgenommene Hautunebenmäßigkeiten einen Trigger darstellen. Insbesondere Unreinheiten, Hautirritationen, Schorf von Wunden, Hautschüppchen oder andere Läsionen können den Drang zum Manipulieren auslösen.
Durch Knibbeln, Quetschen und Kratzen soll erreicht werden, dass die Haut sich glatter anfühlt. Oft geschieht das Verhalten aber auch automatisiert und nahezu unbewusst.
4. Symptome und Verlaufsformen
Typisch für die Dermatillomanie ist ein pathologisches Knibbeln der Haut, das sich durch vermehrte, teils schwere Läsionen und Wunden auf der Haut zeigt, insbesondere an gut zugänglichen Hautstellen wie dem Gesicht. Durch den Betroffenen kann dieses Verhalten nur schwer oder gar nicht kontrolliert werden.
Folgen der selbst verursachten Hautverletzungen lösen ein Gefühl von Scham aus, welches zusätzlich zu vermehrtem sozialen Rückzug führen kann.
Oft werden betroffene Hautbereiche durch hochgeschlossene Kleidung versteckt oder mittels Make-up kaschiert. Betroffene meiden teils Aktivitäten, bei denen die Hautschäden sichtbar werden können, darunter Schwimmbäder, hell erleuchtete Veranstaltungen oder Ähnliches.
Formen schwerer Dermatillomanie können zu auffälligen Vernarbungen führen, stellen ein Risiko für Infektionen, schlechte Wundheilung und sogar einer möglichen Sepsis dar.
5. Differenzialdiagnose
Die Dermatillomanie sollte vorab von Hauterkrankungen abgegrenzt werden, die mit vermehrten Entzündungen und Läsionen einhergehen, wie beispielsweise Formen schwerer Akne.
Zu beachten ist außerdem, dass Betroffene der Skin Picking Disorder zeitgleich unter weiteren Erkrankungen leiden können, besonders Zwangsstörungen, Angststörungen oder Depressionen. Die Dermatillomanie kann außerdem mit anderen verwandten Störungen einhergehen, darunter die Onychotillomanie, Trichotillomanie oder Cheilitis factitia.
Mittlerweile wird auch die Acné excoriée des jeunes filles zur Demmatillomanie gezählt. Bei dieser Form einer ursprünglich lediglich minimal ausgeprägten unreinen Haut oder Akne kommt es durch Selbstmanipulation der Haut zu schweren Entzündungen und stärkeren Verlaufsformen von Akne.
6. Ärztliche Therapie
Bei der Diagnostik ist mit viel Empathie und Fingerspitzengefühl vorzugehen. Geeignet ist eine direkte, einfühlsame Ansprache in einer vertrauensvollen Atmosphäre. Es gibt ein großes Risiko falsch negativer Urteile, besonders weil bekanntere, komorbide Erkrankungen häufig in den Vordergrund rücken. Nach gesicherter Diagnose sollte sowohl der Bereich der Dermatologie als auch der Psychologie betrachtet werden, weil die Dermatillomanie in beide Disziplinen fällt.
Psychologisch hat sich die kognitive Verhaltenstherapie bewährt, bei der individuelle Strategien zum Umgang mit dem Skin Picking erarbeitet werden. Darunter fallen Psychoedukation und Selbstbeobachtungstraining, Strategien, welche das Knibbeln reduzieren sollen, und gezielte Rückfallprophylaxen inklusive Notfallplan. Dermatologisch kann die Verbesserung des Hautbildes dazu beitragen, weniger „Trigger“ für ein Knibbeln, Kratzen und Quetschen zu bieten.
7. Empfehlungen für die Kosmetikerin
Bei Verdacht auf Skin Picking sollte auch die Kosmetikerin sehr umsichtig vorgehen. Keinesfalls sollte der Kunde durch diese ohnehin psychisch belastende Erkrankung stigmatisiert oder vorverurteilt werden. Stattdessen hat sich auch hier eine empathische Ansprache mit viel Verständnis bewährt.
Die Kosmetikerin kann zudem durch individuelle Maßnahmen und Behandlungen maßgeblich dazu beitragen, die Haut in einen guten Zustand zu bringen. Das kann den Behandlungserfolg positiv unterstützen und Trigger der Betroffenen reduzieren. Je nach spezifischem Auslöser für das Manipulieren der Haut helfen beispielsweise Produkte, die gegen Unreinheiten wirken, oder individuell abgestimmte Hautpflegeprodukte, welche die Haut intensiv pflegen und angenehm anfühlen lassen.
Quellen:
www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/s-0043-120953.pdf
https://register.awmf.org/assets/guidelines/013-024l_S1_Psycho
somatische_Dermatologie_2018-05.pdf
www.aerzteblatt.de/archiv/165551/Dermatillomanie-Ventil-fuer-negative-Gefuehlszustaende
Nächster Teil:
Ausgabe 06/24: Tinea capitis
Bereits erschienen:
Diese Leitlinien sind bisher erschienen und exklusiv für Online-Abonnenten nachlesbar:
Psoriasis vulgaris
Atopische Dermatitis
Kontaktekzem
Onychomykosen