Brisanter Mix: Adipositas und Diabetes

01.07.2020
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Adipositas und Diabetes sind Erkrankungen, die besondere Herausforderungen mit sich bringen. Wie sie verhindert und behandelt werden können, erklärt der Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie Professor Dr. med. Jens Aberle.

Übergewicht und schweres Übergewicht/Fettleibigkeit (Adipositas) sind in Deutschland ein zunehmendes Problem. Immer mehr Menschen – auch Kinder und Jugend-
liche – sind zu dick: Über die Hälfte der Erwachsenen und 15 Prozent der Drei- bis Siebzehnjährigen sind von Übergewicht betroffen. Ein knappes Viertel der Erwachsenen und 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind sogar adipös – Tendenz steigend.

Dicke Kinder werden meist dicke Erwachsene und sie haben ein erhöhtes Risiko für diverse stoffwechselbedingte Folgeerkrankungen – insbesondere für Diabetes mellitus Typ 2. Das Risiko für einen Typ-2-Diabetes wächst um etwa 20 Prozent je 1 kg/m² höherem Body-Mass-Index (BMI). Die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Diabetes ist aber auch abhängig von der Dauer der schon bestehenden Adipositas. Besonders hoch ist diese, wenn schon im Kindes- oder Jugendalter ein erhöhter BMI besteht.

Eine Studie zeigt, dass es bereits in der Kindheit eine kritische Phase gibt, die eine spätere Adipositas-Erkrankung begünstigt. Diese Phase liegt zwischen dem zweiten und dem sechsten Lebensjahr und fällt damit genau in das Kindergartenalter. Es ist anzunehmen, dass in diesem Alter auch die Grundlagen für einen Diabetes und andere Folgeerkrankungen gelegt werden. Daher gilt es, Präventionsmaßnahmen möglichst frühzeitig anzusetzen.

Verhaltensprävention

Bestehen bereits starkes Übergewicht und/oder Diabetes ist zunächst eine
Lebensstilveränderung mithilfe bewegungstherapeutischer Maßnahmen und einer Ernährungsumstellung unvermeidbar. Vielen Adipositas-Patienten fällt es jedoch aufgrund gewachsener Gewohnheiten schwer, ihr erhebliches Übergewicht zu reduzieren. Aktuelle Therapieempfehlungen besagen, dass sogar eine pharmakologische Therapie für Menschen mit einem mit einem BMI ab 28 kg/m² und bereits bestehenden Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Herzkreislauf-Erkrankungen sinnvoll ist.

So zeigten Untersuchungen mit den Medikamenten Ligaglutid und Semaglutid, dass diese das Neu- sowie das Wiederauftreten eines Diabetes deutlich reduzieren können.Allerdings sind solche Therapiemaßnahmen in Deutschland noch nicht zugelassen und werden von den Krankenkassen noch nicht finanziert. Hierzu sind noch Folgestudien notwendig.Die bariatrische Chirurgie ist eine inzwischen häufige Maßnahme, Patienten mit einem sehr hohen BMI zu behandeln, um metabolische Folgeerkrankungen zu verhindern oder zumindest zeitweilig in Remission zu bringen. Derzeit werden jährlich etwa 13.400 Operationen durch-
geführt – meist sind es Standardoperationen, wie der Magen-Bypass oder die Sleeve Gastrektomie.

Apps, Telemedizin und Co.


Die Umstellung des Lebensstils gelingt leider erstaunlich wenigen Patienten. Langzeitdaten belegen, dass nur maximal 10 bis 15 Prozent aller Patienten dauerhaft eine Lebensstil-Änderung durchhalten. Um ihr Selbstmanagement zu unterstützen und Menschen mit Adipositas und/oder Diabetes dabei zu helfen, ihr Übergewicht möglichst dauerhaft zu reduzieren und Folgeerkrankungen zu verhindern, werden immer häufiger auch technologische Möglichkeiten genutzt. Der Einsatz digitaler Tools zur Prävention und Behandlung von Adipositas und Diabetes gibt den Patienten und Behandelnden erstmalig die Möglichkeit, individualisierte und personalisierte Präventionsmaßnahmen in der bestehenden deutschen Gesundheitsstruktur qualitätsgesichert umzusetzen. Die Zertifizierung einer App bietet grundsätzlich das Potenzial, tausenden, hunderttausenden oder mehr Nutzern eine Präventionsmaßnahme anzubieten.

So wurden Apps und telemedizinische Programme entwickelt, die es den Patientinnen und Patienten erleichtern können, ihre Zielvorgaben erfolgreich umzusetzen. Insbesondere in der Diabetestherapie wird dies bereits umgesetzt. Die Inhalte sind meist auf bewegungstherapeutische Maßnahmen ausgelegt, die vor allem Menschen mit Übergewicht zugutekommen. Die Zulassung der Apps als Therapie-unterstützung und ihre bevölkerungsweite Verbreitung könnte einen Durchbruch für eine wirkungsvollere Verhaltensprävention im Rahmen von Public Health bedeute

Miniglossar

− adipös: fettleibig
−Body-Mass-Index (BMI): Körpermasseindex, berechnet Körpergewicht (in kg) geteilt durch Größe (in m) zum Quadrat
−bariatrisch: die medizinische Behandlung des Übergewichts (Bariatrie) betreffend
−metabolisch: im Stoffwechselprozess entstanden
−Magen-Bypass: auch Roux-en-Y-Magenbypass, operativer Eingriff, bei dem der Vormagen vom Restmagen abgetrennt wird und auf den so entstandenen kleinen Vormagen eine Dünndarmschlinge genäht wird
−Sleeve Gastrektomie: Schlauchmagen-OP

Verhältnisprävention

Die Verhältnisprävention ist eine große gesellschaftliche Aufgabe im Kampf gegen Adipositas und Diabetes. Nicht nur für die Betroffenen und deren soziales Umfeld haben starkes Übergewicht und Diabetes weitreichende Folgen für Gesundheit und Lebensqualität. Beide Erkrankungen verursachen außerdem hohe Kosten im Gesundheitssystem und belasten damit das Gemeinwesen. Angesichts dieser beträchtlichen individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen ist es aus medizinischer und gesundheitspolitischer Sicht dringend notwendig, diese beiden oft gemeinsam einhergehenden Erkrankungen frühzeitig zu verhindern und bestenfalls bereits im Kindesalter gegenzusteuern.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Lebenswelten gesundheitsförderlich zu gestalten, so dass es Menschen erleichtert wird, sich gesund zu verhalten und ihren individuellen Lebensstil erfolgreich und nachhaltig zu verbessern.Neben Maßnahmen zur individuellen Verhaltensprävention in Form von Bewegungsförderung und gesunder Ernährung sind also auch verhältnispräventive Ansätze mit Hilfe gesundheitspolitischer Maßnahmen unverzichtbar. 22 wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften, Verbände und Forschungseinrichtungen haben sich in der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (Dank) zusammengeschlossen, um sich für bevölkerungsweite Maßnahmen einzusetzen, die den fortgesetzten Anstieg von Adipositas und erschreckende Prognosen für rasant ansteigende Diabetes mellitus-Zahlen in den kommenden 20 Jahren verhindern können.

Zu den geforderten politischen Maßnahmen, die auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im globalen Aktionsplan gegen nichtübertragbare Krank-
heiten 2013–2027 empfohlen werden, gehört eine verbindliche Zuckerreduktion bei verarbeiteten Lebensmitteln. Hierzu zählt auch die verbindliche Anwendung des Nutri-Scores in Europa – eine farbliche Lebensmittelkennzeichnung bei verarbeiteten Produkten. Sie ermöglicht es den Verbrauchern, ungesunde Produkte von gesunden besser zu unterscheiden. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) unterstützt derzeit nur eine freiwillige Anwendung des Nutri-Scores in Deutschland.

Weiterhin könnte eine Besteuerung „dick machender“ Lebensmittel bei gleichzeitiger Steuerentlastung von gesunden Lebensmitteln mehr Menschen besser für eine gesündere Lebensmittelauswahl beim Einkauf motivieren. Hinsichtlich der Prävention im Kindes- und Jugendalter fordert der Verbund auch verbindliche Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung nach den Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und täglich mindestens eine Stunde Bewegung in Kita und Schule. Darüber hinaus ist ein Werbeverbot für ungesunde Produkte, die an Kinder gerichtet sind, sinnvoll. Denn wie oben geschildert, werden die Weichen für Adipositas und Diabetes bereits im Kindesalter gestellt. Dies gilt es zu verhindern.

Professor Dr. med. Jens Aberle

Professor Dr. med. Jens Aberle,

Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, ärztlicher Leiter, Ambulanzzentrum am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf,
Vorsitzender der Kommission „Adipositas und bariatrische Chirurgie“ der DDG, Vizepräsident der DAG

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