
Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen. Sie sollen Ärzten Empfehlungen geben, wie eine Erkrankung festgestellt und behandelt werden sollte. Auch Kosmetikerinnen können eine Menge von ihnen für ihre Arbeit ableiten. In Teil 9 unserer Leitlinien-Serie stellt Ihnen die angehende Ärztin, Kosmetikerin und Beauty Managerin Sarah White die wichtigsten Fakten aus der Leitlinie Urtikaria vor.
1. Definition (Beschreibung, Aussehen)
Urtikaria, umgangssprachlich auch als Nesselsucht bekannt, ist eine entzündliche und nichtinfektiöse Hauterkrankung, die durch plötzlich auftretende Quaddeln, Angioödeme oder eine Kombination aus beidem gekennzeichnet ist. Quaddeln sind flüchtige rötliche, meist juckende Hautveränderungen, während sich Angioödeme als tiefere Schwellungen insbesondere im Gesicht oder an Schleimhäuten darstellen.
Die Symptome entstehen durch eine gesteigerte Freisetzung von Histamin und anderen Botenstoffen aus Mastzellen. Urtikaria wird nach zeitlichem Verlauf in akute (< 6 Wochen) und chronische Formen (≥ 6 Wochen) eingeteilt. Bei chronischer Urtikaria unterscheidet man die spontane Form, ohne erkennbare Ursache, von der induzierbaren Form mit konkreten Auslösern wie zum Beispiel Kälte oder Druck.
2. Epidemiologie (Prävalenz, Geschlecht, Alter)
Die Lebenszeitprävalenz der Urtikaria liegt bei etwa 20 Prozent. Das bedeutet, dass im Lauf des Lebens etwa jeder Fünfte mindestens ein Mal von Urtikaria betroffen ist, wobei die akute Form dominiert. Damit zählt sie zu den am häufigsten vorkommenden dermatologischen Erkrankungen.
Grundsätzlich kann die Erkrankung in jedem Lebensalter auftreten, gehäuft zeigt sie im dritten bis fünften Lebensjahrzehnt. Chronische Urtikaria betrifft etwa 0,5–1 Prozent der Bevölkerung, wobei Frauen öfter erkranken.
3. Ätiologie (Disposition, Trigger)
Die Ätiologie der Urtikaria ist komplex. Als Ursache der akuten Urtikaria kommen unter anderem Infekte, Nahrungsmittel oder Medikamente, darunter Schmerzmittel (NSAR) wie Acetylsalicylsäure, Antibiotika oder ACE-Hemmer, infrage.
Bei der chronischen Form bleibt die Ursache meist unklar, jedoch spielen Autoimmunprozesse, Infekte und Pseudoallergien oder Intoleranzreaktionen eine Rolle. Stress und Alkohol kann bestehende Beschwerden verschlechtern.
Bei der induzierbaren Urtikaria lösen physikalische Reize wie Kälte, Hitze, Druck, Wasser oder UV-Strahlung die Symptome aus.
4. Symptome und Verlaufsformen
Die Symptome der Urtikaria entstehen durch eine Aktivierung von Mastzellen in Haut und Schleimhäuten. Diese Zellen setzen bei Aktivierung verschiedene Mediatoren frei, insbesondere Histamin, aber auch Leukotriene, Prostaglandine und Zytokine. Histamin bewirkt eine Erweiterung der Blutgefäße (Vasodilatation), eine Erhöhung der Gefäßdurchlässigkeit (was zur Schwellung führt) und eine Reizung von Nervenendigungen (was den typischen Juckreiz verursacht). Die Kombination dieser Effekte führt zu den charakteristischen Hautveränderungen wie Quaddeln und Angioödemen.
Quaddeln als juckende, erhabene Hautveränderungen zeigen sich durch eine zentrale Blässe und ein scharf begrenztes Erythem (Rötung), welches bei Druck mit einem Glasspatel abblasst. Quaddeln können einzeln oder großflächig auftreten, hellrot oder weißlich erscheinen und sind sehr variabel in der Größe, von wenigen Millimetern bis vielen Zentimetern. Sie treten plötzlich, innerhalb von Sekunden bis Minuten, auf und verschwinden meist nach einigen Stunden.
Angioödeme zeigen sich als länger andauernde und pralle Schwellungen der Dermis, Subkutis oder Submukosa, die einige Tage anhalten können. Sie verursachen ein unangenehmes Spannungs- oder Druckgefühl, welches auch schmerzhaft sein kann. Besonders im Gesicht können Angioödeme entstellend wirken. Ein Ödem des Kehlkopfs ist wegen Einschränkungen in der Atmung sogar ein ernster medizinischer Notfall.
Während die akute Urtikaria per Definition innerhalb von 6 Wochen abklingt, kann die chronische Urtikaria Wochen bis Jahre persistieren und dabei stark in der Intensität variieren. Besonders diese chronische Form kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und zu Schlafstörungen und Depressionen führen.
5. Differenzialdiagnose
Abzugrenzen sind insbesondere Anaphylaxien mit systemischen Symptomen, hereditäre Angioödeme ohne Quaddeln, allergische Reaktionen sowie Vaskulitiden. Auch Arzneimittelreaktionen, CAPS, das Schnitzler-, Gleich- und Wells-Syndrom, Frühstadien des bullösen Pemphygoids sowie kutane Mastozytose sollten bedacht werden.
Da die Ursachen der Urtikaria sich sehr vielfältig und komplex zeigen, ist eine genaue Anamnese und gegebenenfalls Labordiagnostik für die Abgrenzung erforderlich. Dazu dienen beispielsweise physikalische Provokationstests, Prick- und Epikutantests sowie diverse Infektionsdiagnostiken.
6. Ärztliche Therapie
Die Behandlung erfolgt stufenweise. Zunächst werden Antihistaminika der zweiten Generation (H1-„Rezeptorantagonisten“) wie Loratadin oder Cetirizin eingesetzt. Diese passieren, im Gegensatz zu Antihistaminika der ersten Generation, nicht oder kaum die Blut-Hirn-Schranke (und haben dadurch weniger sedierende und schlaffördernde Wirkungen). Bei unzureichender Wirkung der Antihistaminika kann die Dosis erhöht werden.
Sollte der Betroffene auf diese Therapie nicht ansprechen, können Omalizumab, ein monoklonaler Antikörper, oder als letzte Wahl Ciclosporin A, ein Immunsuppressivum, eingesetzt werden. Systemische Kortikosteroide sind zur kurzfristigen Linderung zugelassen, jedoch nicht für den Langzeitgebrauch empfohlen. Wichtig ist auch das Vermeiden individueller Trigger.
7. Empfehlungen für die Kosmetikerin
Kosmetikerinnen nehmen für Kunden mit Urtikaria eine wichtige, unterstützende Rolle ein. Sie dürfen keine Diagnosen stellen oder medizinische Behandlungen durchführen, können jedoch durch eine passende Hautpflege und Aufklärung zur Verbesserung des Hautzustands und zur Prävention beitragen.
Bei Verdacht auf eine Urtikaria – etwa bei plötzlich auftretenden Quaddeln, Schwellungen oder starkem Juckreiz – sollte stets eine Überweisung an einen Dermatologen erfolgen.
Eigenständige Behandlungsver-suche, insbesondere invasive Methoden wie Peelings, Mikrodermabrasion oder Anwendungen mit Hitze und Kälte, sind dann kontraindiziert.
Bei Kunden mit bekannter Urtikaria sollten die individuellen Trigger in Erfahrung gebracht werden, da diese die kosmetische Behandlung stark beeinflussen können: Insbesondere bei induzierbarer Urtikaria ist Vorsicht geboten, da physikalische Reize wie Wärme, Kälte oder mechanische Belastung einen Auslöser darstellen können.
In der Pflege sollte auf die Verwendung von reizfreien Produkten geachtet werden. Sanfte Reinigungs- und Pflegekonzepte, die die Hautbarriere schützen und stärken, sollten im Vordergrund stehen.
Quellen:
https://register.awmf.org/assets/guidelines/013-028l_S3_Klassifikation-Diagnostik-Therapie-Urtikaria_2022-04.pdf
www.jacionline.org/article/S0091-6749(22)00545-0/fulltext
https://flexikon.doccheck.com/de/Angio%C3%B6dem

Sarah White
Die Autorin ist angehende Ärztin, Kosmetikerin, Beauty Managerin (IHK), Autorin für Fachzeitschriften und Speakerin auf internationalen Kongressen sowie Gründerin der Marke „Iluqua“. www.iluqua.com