
Interview mit Bastienne Neumann

Bastienne Neumann
Die studierte Ernährungswissenschaftlerin hat sich auf das Gebiet der Ernährungspsychologie spezialisiert. Sie ist Buchautorin, Podcasterin und Ernährungsexpertin bei AG1.
MEDICAL: Sie sagen, dass Abnehmen mehr eine Willensfrage als eine Wissensfrage ist. Können Sie das bitte näher erläutern?
Bastienne Neumann: Wir alle wissen, dass ein Apfel gesünder ist als Schokolade. Trotzdem greifen wir in bestimmten Momenten eher zur Schokolade – und genau da wird es spannend. Die zentrale Frage lautet meines Erachtens nicht „Was
ist gesund?“ sondern vielmehr „Warum entscheide ich mich trotz besseren Wissens immer wieder für das Gegenteil? Und hier kommen emotionale und psychologische Faktoren ins Spiel.
Essen ist für viele Menschen mehr als bloße Nahrungsaufnahme – es erfüllt oft auch eine Funktion. Es kann beruhigen, trösten, ablenken oder einfach nur ein Gefühl von Kontrolle oder Belohnung geben. Deshalb halte ich es für entscheidend, dass wir lernen, uns selbst besser zu verstehen: Was brauche ich eigentlich gerade wirklich, wenn ich zur Schokolade greife? Vielleicht geht es gar nicht um Hunger, sondern um Stress, Einsamkeit oder Überforderung.
Welche Strategien empfehlen Sie, um solche emotionalen Verknüpfungen zu erkennen?
Ich denke, ein zentraler Schritt, um emotionales Essen besser zu verstehen, ist das bewusste Innehalten. Oft essen wir automatisch – ohne darüber nachzudenken, was uns gerade wirklich bewegt. Daher empfehle ich, sich zunächst darin zu üben, den eigenen Essimpuls zu beobachten, bevor man ihm nachgibt. Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Frage lautet: Habe ich körperlichen Hunger – oder will ich gerade essen, um etwas anderes zu fühlen oder eben nicht zu fühlen?
Hilfreich ist auch ein „Essens-Tagebuch“, in dem nicht nur festgehalten wird, was und wann gegessen wurde, sondern auch, unter welchen Umständen – also: Wie habe ich mich in dem Moment gefühlt? Gab es einen konkreten Auslöser? War ich gestresst, traurig, gelangweilt oder überfordert? Auf diese Weise lassen sich mit der Zeit Muster erkennen: bestimmte Situationen, Emotionen oder Tageszeiten, in denen emotionales Essen besonders häufig vorkommt.
Darüber hinaus spielt Achtsamkeit eine große Rolle. Das bedeutet, im Moment präsent zu sein und den Kontakt zum eigenen Körper und Gefühlsleben zu stärken. Kleine Achtsamkeitsübungen – zum Beispiel ein paar bewusste Atemzüge vor dem Essen oder das kurze Innehalten bei einem Snack-Impuls – können helfen, den Autopiloten zu unterbrechen.
Wie gelingt es, Essgewohnheiten langfristig zu verändern?
Langfristige Veränderungen gelingen am besten, wenn sie nicht durch Druck, sondern durch Einsicht, Selbstfürsorge und realistische Schritte getragen werden. Viele Menschen scheitern nicht an einem Mangel an Disziplin, sondern an zu hohen Erwartungen an sich selbst. Deshalb ist es wichtig, Veränderungen nicht als kurzfristiges Projekt zu sehen, sondern als nachhaltige Umstellung von Gewohnheiten, die zum eigenen Leben passen.
Ein erster wichtiger Schritt ist, sich bewusst zu machen, warum man überhaupt etwas verändern möchte. Ein klarer, persönlicher Grund – wie mehr Energie im Alltag, ein besseres Körpergefühl oder ein selbstbestimmter Umgang mit Essen – gibt Orientierung und Motivation.
Darauf aufbauend hilft es, konkrete kleine Verhaltensziele zu setzen, anstatt sich gleich alles auf einmal vorzunehmen. Zum Beispiel: „Ich esse mittags jeden Tag ein Gemüsegericht“ statt „Ich ernähre mich ab sofort komplett gesund“. Solche kleinen realistischen Schritte sind leich-ter umzusetzen – und Erfolge motivieren dranzubleiben.
Entscheidend ist auch, Rückfälle nicht als Scheitern zu bewerten. Alte Muster dürfen auftauchen – sie sind Teil des Veränderungsprozesses. Wer sich in solchen Momenten nicht verurteilt, sondern neugierig fragt: „Was hat mich gerade aus dem Gleichgewicht gebracht?“, bleibt in einem konstruktiven Lernprozess. Und schließlich: Langfristiger Erfolg braucht Struktur und Selbstfürsorge. Das kann bedeuten, Mahlzeiten zu planen, gesunde Routinen einzuplanen, gesunde Vorräte im Haus zu haben oder auch bewusst Pausen einzuplanen, um Stress gar nicht erst zu groß werden zu lassen.
Was sind für Sie die drei häufigsten Missverständnisse über das Abnehmen?
1. „Mein Gewicht ist allein eine Frage der Disziplin.“ Das greift zu kurz. Unser Essverhalten wird stark durch Emotionen, Routinen, Stress und soziale Einflüsse gesteuert. Natürlich spielt Selbstkontrolle eine Rolle, aber wer ausschließlich auf Disziplin setzt, landet oft in einem ständigen Kampf mit sich selbst. Nachhaltiger ist es, sich selbst besser zu verstehen, die eigenen Auslöser zu erkennen und Strukturen zu schaffen, die gesunde Entscheidungen erleichtern.
2. „ Es kommt nur auf die Kalorien an“ hält sich als hartnäckiges Missverständnis. Natürlich spielen Kalorien beim Abnehmen eine Rolle – aber sie sind längst nicht der einzige Faktor. Wer sich ausschließlich auf Kalorienzahlen konzentriert, übersieht oft, wie wichtig die Qualität der Ernährung ist. Unser Körper braucht eine Vielzahl an Nährstoffen, um gut zu funktionieren. Wer hier langfristig zu kurz greift, riskiert Mangelzustände, die sich nicht nur auf das Wohlbefinden, sondern auch auf die körperliche Gesundheit auswirken können.
Deshalb achte ich persönlich darauf, dass die Ernährung nicht nur „leicht“, sondern auch vollwertig ist. Und wenn das im Alltag einmal nicht vollständig gelingt, kann ein hochwertiges Nahrungsergänzungsmittel eine sinnvolle Unterstützung sein, um die Basisversorgung stabil zu halten.
3. „Ich darf bestimmte Lebensmittel nie wieder essen.“ Diese Schwarz-Weiß-Denke führt oft zu Frust und Heißhungerattacken. Sobald ein Lebensmittel als „verboten“ gilt, steigt meist das Verlangen danach – ein klassischer psychologischer Effekt. Statt sich etwas rigoros zu verbieten, ist es sinnvoller, eine Balance zu finden: sich bewusst zu gönnen, aber in einem Rahmen, der dem Körper guttut. Genuss und Gesundheit schließen sich nicht aus – im Gegenteil, sie dürfen koexistieren.

Dieser Artikel stammt aus dem Fachmagazin MEDICAL
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